2014 erschien bei Männerschwarm ein voluminöses Buch mit den Frühwerken, die Ralf König von 1980 bis 1984 zeichnete. In seinem Vorwort zu Band 1 von Der junge Königerzählt König, wie wichtig für ihn die Underground-Comix von Robert Crumb waren. Dessen Fritz the Cat zeigte dem 11-jährigen Buben aus einem Dorf in Westphalen, dass mit Comics nicht nur asexuelle kindgerechte Geschichten erzählt werden können. Nach seinem Coming Out begann König ab 1980 für das schwule Magazin Rosa Flieder zu zeichnen, bevor er mit seiner eigenen Reihe Schwulcomix startete.
Das Buch enthält im Wesentlichen die ersten drei Ausgaben von Schwulcomix, sowie einige Zugaben, die zeigen wie König langsam aber sicher seinen mittlerweile unverwechselbaren Stil gefunden hat. Von einer Gesamtausgabe kann jedoch leider nicht die Rede sein, denn manche seiner frühen Werke mochte König den heutigen Lesern nicht mehr zumuten. Daher hat er sie nicht zur Veröffentlichung freigegeben. Für ihn sind einige seiner ersten Comic-Gehversuche “unausgereifter komplett humorloser und schlecht gezeichneter Pornokitsch“, was durchaus Neugierde weckt. Doch auch in dieser Form kann der mit Zeitungskritiken und einer Bibliographie garnierte Band gefallen.
Männerschwarm setzte die Reihe fort. Der zweite mit 280 Seiten deutlich umfangreichere Band enthält unter dem Motto “Die Vollendung der Knollennase“ Ralf Königs Comics, die 1986 und 1987 entstanden sind. Präsentiert wird neben Schwulcomix #3 und #4 auch Comics der “völlig unschwulen“ Serie Bodo und Heinz, die König für die Bergbau-Zeitschrift Arbeit und Sicherheit zeichnete. Bemerkenswert sind auch die Safer-Sex-Comics aus Der Verhüter, einer Broschüre der deutschen Aids-Hilfe, sowie die Geschichten mit mit Königs ersten Serien-„Helden“ Norbert Brommer aus Rosa Flieder. Brommer wurde 1987 zur Hauptfigur in Königs großem Erfolg Der bewegte Mann.
Im dritten Band über die Jahre 1988 bis 1990 lautet das Motto “Die Nasen werden bunt“. Präsentiert werden u. a. die bei Carlsen erschienenen Alben Prall aus dem Leben und Zitronenröllchen. In letzterem ist mit Die Versuchung auch eine höchst vergnügliche Zusammenarbeit von Ralf König und Walter Moers enthalten. Passend dazu präsentiert Band 3 mit Schwulxx-Comix eine weitere Kooperation des Duos, die 1989 bei Edition Kunst der Comics im Piccolo-Querfomat erschienen ist. Wie in allen drei Bänden gibt es zusätzlich noch köstliche Zugaben, wie Kalenderblätter mit den schönsten Vorhautverengungen oder Briefmarken der deutschen Tuntenpost.
Unter dem Titel Ein König, drei Bände erscheint zum 60. Geburtstag von Ralf König eine Gesamtausgabe seines Frühwerks. Der Preis von 50,- Euro für die drei durch eine Pappbanderole zusammengehaltenen Hardcover-Bücher ist, gegenüber den 89,- Euro, die für die Einzelbände anfallen, deutlich günstiger angesetzt.
Seit dem 13. Februar 1937 erscheint allwöchentlich eine weitere Seite mit den Abenteuern von Prinz Eisenherz. Der Leser konnte miterleben, wie der junge Adlige aus Thule auszog und es schaffte Ritter der Tafelrunde zu werden, sowie seine geliebte Aleta zu erobern. Mittlerweile ist er mehrfacher Familienvater und oft steht sein Sohn Arne stärker im Zentrum des Geschehens als der Titelheld.
Geschaffen wurde die Figur von Hal Foster, dessen unglaublich detailreichen Zeichnungen ebenso faszinieren, wie sein Talent die epische Saga mit humorvollen oder auch nachdenklich machenden Episoden auszuschmücken. Der vorliegende Band erzählt von der ersten tragischen Liebe des noch jungen Helden zur schönen Ilene und ist der Start einer optimal aufgemachten Gesamtausgabe.
In 17 Hardcover-Bänden werden alle 1788 Prinz Eisenherz-Seiten präsentiert, die Hal Foster bis 1971 gezeichnet hat. Auch der von Fosters noch selbst ausgewählte Nachfolger, der mittlerweile ebenfalls verstorbene John Cullen Murphy, sowie die danach von Gary Gianni und Thomas Yeates gestalteten Geschichten kommen in dieser optimalen Form zum Abdruck.
Da die Kolorierung der Carlsen-Ausgabe (und schon gar nicht die entsetzlichen Rot- und Grüntöne der Pollischansky-Edition) nicht so recht überzeugen konnte, hielten viele Eisenherz-Fans die mit nur einer Schmuckfarbe kolorierte Version aus Primo oder die ganz auf Farbe verzichtende Edition des Melzer Verlags für die bestmögliche Veröffentlichungsform.
Das hat sicher seine Berechtigung, denn ein Abdruck in Schwarzweiß zeigt was für ein begnadeter Zeichner Hal Foster war. Doch auf den Sonntagseiten der US-Zeitungen wurde Prinz Eisenherz in Farbe abgedruckt und viele Details verschwinden, wenn auf die Kolorierung verzichtet wird.
Der Bocola Verlag hat den Comic digital restauriert, so “dass die Farben so aussehen, wie sie damals im Idealfall hätten aussehen können.“ Verwendung fanden hierzu sowohl sorgfältig ausgewählte US-Zeitungsseiten als auch auf das persönliche Archiv von Hal Foster.
Hal Foster hat zwar wenig Wert darauf gelegt, seine sehr großen Originalzeichnungen zu behalten, doch er bewahrte von fast allen Seiten Andruckexemplare auf. Diese Blätter dienen als Referenz dazu, sowohl die Zeichnung als auch die Farben optimal wiederzugeben und befinden sich heute im Besitz der Syracuse University.
Bocola hat auf der Grundlage von möglichst gut gedruckten Zeitungsseiten und Fosters gesammelten Andrucken das Erscheinungsbild des Comics so gut wie möglich rekonstruiert. Die Resultate dieser Fleißarbeit kamen teilweise sogar in der bei Fantagraphics Books erscheinenden US-Ausgabe von Prince Valiant zum Abdruck.
Doch nachdem Hal Fosters Prinz Eisenherz komplett bei Bocola erschienen ist, war die Arbeit noch lange nicht beendet. Für Neuauflagen – Band 1 wurde bereits viermal nachgedruckt – wurde erneut restauriert, damit die Feinheiten von Hal Fosters Zeichenkunst noch besser zur Geltung kommen.
Auch neue Erkenntnisse in der “Eisenherz-Forschung“ fließen in die Gesamtausgabe ein. Bemerkenswert war die Entdeckung einiger Eisenherz-Originalseiten von Hal Foster aus dem Jahre 1943, die mit einem Kopfbalken versehen waren, jedoch in den Zeitungen in anderer Form zum Abdruck kamen. Bocola-Herausgeber Achim Dressler war zuvor bereits aufgefallen, dass das Erscheinungsbild dieser Seiten “ziemlich unharmonisch, fast schon hölzern wirkt“.
Dies liegt daran, dass im oberen Seitenbereich “auf recht unbeholfene Art das Layout nachträglich verändert“ und “zahlreiche Panels einfach verlängert“ wurden. Daher hat Bocola in der dritten Auflage von Band 4 der Gesamtausgabe sechs Seiten (332 bis 337) “so restauriert, wie Hal Foster sie ursprünglich gezeichnet hat.“
Dieser Aufwand mag übertrieben erscheinen, doch wenn es eine Comicserie verdient hat, so optimal wie möglich präsentiert zu werden, dann ist dies zweifelsohne Prinz Eisenherz von Hal Foster!
Dieser Fantasy-Comic beschwört die Welt der Insel Errance, deren Zentrum von Wesen mit Zauberkräften bevölkert wird. Die Menschen hassen und bekämpfen diese Kreaturen. Besonders eifrig ist hierbei der jung und arrogante Prinz Bran. Doch dieser wird mit einem Fluch belegt und in einen Raben verwandelt.
Soweit, so vertraut, Gebrüder Grimm und Ottfried Preußler, wir hören Euch trapsen. Doch (Achtung Spoiler!) originell wird “Bran“ dadurch, dass in Flora Grimaldis Geschichte der Titelheld nach seiner Verzauberung nicht nur tagsüber ein sprechender Rabe ist, sondern nachts zum krächzenden Prinz wird. Auch Brans Beziehung zur attraktiven Magierin Macha, die sich u. a. in einen Fuchs verwandeln kann, dürfte sich im weiteren Verlauf der Serie noch interessant entwickeln.
Magisch sind auch die in leuchtenden Farben sehr plastisch kolorierten Bilder der jungen deutschen Zeichnerin Maike Plenzke. Bemerkenswert ist, dass ihr Comic-Debüt “Bran“ nicht zuerst bei Carlsen Comics erschienen ist, sondern bereits ein Jahr zuvor beim französischen Verlag Glénat veröffentlicht wurde. Es darf sich auf weitere Bände dieser zauberhaften Reihe gefreut werden.
Wenn Jiro Taniguchi (Die Sicht der Dinge) aus dem Leben einer buddhistischen Religionsstifterin erzählt, dann ist das Resultat kein religiöser Erbauungsroman, sondern eher das japanische Gegenstück zu Anna Wimschneiders Erfolgsroman “Herbstmilch – Lebenserinnerungen einer Bäuerin“. Im Zentrum des Comics stehen die Jugendjahre von Tomoji Uchida, die nachdem sie 1932 ihren Cousin Fumaki Ito heiratete, gemeinsam mit diesem die Religionsgemeinschaft Shinnyo-En gründete.
Tomoji wurde 1912 in einfachen Verhältnissen in einem kleinen Bergdorf westlich von Tokyo geboren. Dort wuchs sie im Kreise einer weit verzweigten Familie zwar relativ behütet auf, wurde aber dennoch mit zahlreichen Schicksalsschlägen, wie dem Tod ihres Vaters und einiger Geschwister, konfrontiert. Sie kam damit besser klar als ihre Mutter, die eines Tages einfach aus dem Leben ihrer Kinder verschwand.
Taniguchi realisierte diesen Comic im Auftrag einer buddhistischen Religionsgemeinschaft. Er akzeptierte das Angebot unter der Bedingung, dass er sich bei der Erzählung Freiheiten erlauben und fiktive Ereignisse mit einbauen durfte. Gemeinsam mit der Autorin Miwako Ogihara zeigte sich Taniguchi stärker daran interessiert von den Härten eines arbeitsreichen Lebens auf dem Lande, als von den möglicherweise daraus resultierenden spirituellen Erkenntnissen zu erzählen.
Ganz ohne mystische Elemente kommt die Geschichte jedoch nicht aus. Der Aufhänger der Story ist eine nicht stattgefundene Begegnung zwischen Tomoji und ihrem späteren Ehemann Fumaki. Die Beiden verpassten sich 1925 knapp, als Fumaki auf dem Lande als Fotograf unterwegs war. Doch die manchmal etwas seltsam verschachtelt erzählte Geschichte vermittelt den Eindruck, dass das Paar, allen Widrigkeiten zum Trotz, füreinander bestimmt ist.
Doch in erster Linie erfreut auch dieses Werk von Taniguchi durch die Akribie mit der nur scheinbar banale Alltäglichkeiten nachfühlbar geschildert werden. Die deutsche Ausgabe von Carlsen erscheint in westlicher Leserichtung und enthält als Anhang ein aufschlussreiches Gespräch mit Taniguchi. Sehr schön ist auch, dass die jeweils ersten Seiten der sechs Kapitel in Farbe zum Abdruck kommen.
Als er von einer Geschäftsreise zurückkehrt steigt der Comiczeichner und Familienvater Thomas scheinbar zufällig in den falschen Zug und landet in einem Dorf in den französischen Bergen. Hierbei handelt es sich um seinen Geburtsort. Thomas sucht dort erstmals seit Jahren wieder das Grab seiner Mutter auf und fällt in Ohnmacht. Als er wieder erwacht, ist er plötzlich 14 Jahre alt und befindet sich plötzlich in den 60er Jahren. Er trifft auf seine Mutter und seinen Vater, der kurz darauf die Familie verlassen hat. Thomas setzt alles daran dies zu verhindern…
Als erster japanischer Comic überhaupt wurde Jiro Taniguchis Vertraute Fremde 2003 auf dem französischen Comicfestival in Angoulême mit dem Preis für das beste Szenario ausgezeichnet. Noch erstaunlicher ist jedoch, dass sechs Jahre später der belgische Regisseur Sam Garbarski (Irina Palm) den Manga mit Alexandra Maria Lara in einer der Hauptrollen verfilmte und die Handlung nach Frankreich verlegte.
Außerdem machte der Film aus der Hauptfigur, die in Taniguchis Manga Architekt war, auch noch einen Comiczeichner und heuerte den populären Comickünstler Frank Pé (Jonas Valentin, Zoo) an um hierfür das nötige Artwork anzufertigen. Außerdem hatte Jiro Taniguchi noch einen Gastauftritt in Garbarskis Film.
Das Resultat ist jedoch weniger das Wunschprojekt eines Comic-Nerds, sondern transportiert ebenso kompakt wie sensibel Inhalt und Grundaussage von Taniguchis Manga. Auch vor europäischen Hintergrund funktioniert die Geschichte vom Mann, der noch einmal seine Jugend durchlebt, und vom Vater, der das Recht auf ein zweites Leben einfordert.
Obwohl Jiro Taniguchi (Vertraute Fremde, Die Sicht der Dinge) diesem Comic nicht getextet hat, sind die kurzen Geschichten maßgeschneidert für den akribischen Chronisten des japanischen Alltags. Auf der Basis eigener Beobachtungen erzählt der Autor Masayuki Kusumi, der mit Taniguchi auch bei Der Gourmet: Von der Kunst allein zu genießen zusammenarbeitete, vom leitenden Angestellten Uenohara, der immer wieder vom rechten (Spazier-)Weg abkommt und dabei kuriose Entdeckungen macht.
Die Geschichte des “geheimen Garten vom Nakano Broadway“ ist seltsamerweise in diesem Band nicht in Comicform vorzufinden, sondern wird von Masayuki Kusumi im umfangreichen Nachwort erzählt. Hier erklärt dieser auch die Hintergründe zu seinen acht Short Storys, die für ein Magazin konzipiert wurden, das hauptsächlich von Hausfrauen gelesen wird. Doch die Geschichten haben einen universellen Charme und laden dazu ein, ausgetretene Pfade zu verlassen und sich auf Entdeckungsreise zu begeben. Vielleicht findet der Leser ja auch etwas ähnlich Kurioses wie den Nachbau einer Edison-Glühbirne, in deren schwachen Licht manches (wie etwa die eigene Ehefrau) neu zu erstrahlen beginnt.
Ein wenig erinnert dies Konzept an Taniguchis Comic Der spazierende Mann, den Carlsen in einer um Farbseiten ergänzten Ausgabe neu herausgebracht hat. Auf den ersten Innenseiten von Der geheime Garten vom Nakano Broadway ist ein wunderschönes Aquarellgemälde von Taniguchi abgebildet, das zeigt wie gut aber auch wie lässig dieser mit Farben umgehen kann und es ist ein bisschen schade, dass seine Comics fast nur aus schwarzweißen Seiten bestehen.
Fast erscheint es schon gar keine neue Nachricht mehr zu sein, doch trotzdem sollte es wieder gesagt werden: Auch mit diesem Band erweist sich Jiro Taniguchi (Vertraute Fremde, Die Sicht der Dinge) als meisterlicher Beschreiber von (nur scheinbar unscheinbaren) alltäglichen Situationen. Obwohl Carlsen auf dem Cover von “Ein Zoo im Winter“ das (Güte-?) Siegel “Graphic Novel“ platzierte und den Band in westlicher Leserichtung veröffentlich, dürfte gerade dieser Band auch für Manga-Fans besonders interessant sein.
Basierend auf eigenen Erfahrungen erzählt Taniguchi in sieben in sich abgeschlossenen Kapiteln wie der Manga im Japan der Sechziger Jahre immer populärer wurde. Hauptfigur ist der 18-jährige Hamaguchi, der – nachdem er in einem Zeichenstudio aushelfen konnte – seinen ungeliebten Job in einem Textilunternehmen kündigt, dort musste er sich die Unterkunft im Firmengebäude auch noch mit drei Kollegen teilen. Wohnungstechnisch sieht es in Tokio auch nicht unbedingt besser aus, denn wenn Hamaguchi inmitten der chaotischen Manga-Produktion überhaupt Zeit zum Schlafen findet, übernachtet er häufig im Atelier.
Taniguchi vermittelt in Ein Zoo im Winter sehr gut die chaotischen Produktionsmethoden im Manga-Bereich und die Sehnsucht der im Schatten des Meisters stehenden Assistenzzeichnern nach eigenen Serien. Die Liebesgeschichte zwischen Hamaguchi und einem kranken Mädchen mag (zumindest für “Taniguchi-Verhältnisse“) etwas arg kitschig geraten sein. Meisterlich ist hingegen geschildert wie Hamaguchis scheinbar spießiger älterer Bruder nach einem Besuch im Manga-Studio merklich auftaut und leicht neidisch zugibt selbst einmal künstlerische Ambitionen gehabt zu haben.
Diesen Band realisierte Jiro Taniguchis nicht im Alleingang, sondern er adaptierte acht Kurzgeschichten des japanischen Autors Ryuichiro Utsumi. Dennoch fügt sich “Von der Natur des Menschen“ nahtlos ein in das Werk des Schöpfers von sensibel erzählten Mangas über scheinbar unscheinbare Dinge wie Vertraute Fremde, Die Sicht der Dinge und Träume vom Glück.
Die Erzählungen handeln von einem älteren Paar, das damit hadert einen Baum fällen zu müssen, von einem weiteren älteren Ehepaar, das sich über die verschlossene Enkelin wundert, von einem Vater, der nach langer Zeit seine Tochter wiedertrifft, von zwei sehr unterschiedlichen Brüdern, vom Wiedersehen zweier sich fremd gewordener Geschwister, von einer älteren Dame, die sich erstmals verliebt, von zwei Kindern, die nach einem Umzug ihren Hund vermissen und von einer Französin, die in Japan eine neue Heimat findet.
Allen Geschichten ist gemein, dass hier sowohl eine sich über einen relativ kurzen Zeitraum hinziehende Begebenheit erzählt wird, zugleich aber durch Rückblenden auf lange zurückliegende Ereignisse noch zusätzliche biografische Daten zu den handelnden Personen vermittelt werden. Dadurch lernt der Leser sehr viel stärker als in vielen epischen Geschichten die Protagonisten langsam aber sicher regelrecht kennen und sorgt sich nach dem Ende jeder Kurzgeschichte unweigerlich noch weiter um die Figuren.
Ein kinderloses Ehepaar hängt sehr stark seinem Hund Tamu. Als dieser altersbedingt schwach und krank wird, setzen sie alles dran um das Tier am Leben zu erhalten. Doch schließlich kommt es wie es kommen muss. Kurz darauf erhält das Pärchen eher zufällig über eine Freundin, die für den Tierschutzverein arbeitet, eine Perserkatze, die wie sie kurz danach erfahren auch noch schwanger ist. Das Ehepaar beschließt den dreiköpfigen Nachwuchs ebenfalls bei sich aufzunehmen und richtig turbulent wird es als auch noch die Nichte Aki von zu Hause ausbüxt und sich bei unserem Pärchen einquartiert.
Das klingt ja nun nicht gerade sonderlich spektakulär und wenn mir nicht Jiro Taniguchis Mangas Vertraute Fremde und Die Sicht der Dinge so angenehm in Erinnerung geblieben wären, hätte man mich mit Geschichten über Haustiere als Kindersatz jagen können. Doch es ist erstaunlich was Taniguchi durch seine detailreichen Zeichnungen und seine sensiblen Betrachtungen aus den nur scheinbar unspektakulären Themen herausholt. So ist es rührend aber auch absolut verständlich, dass die Hauptfiguren sich aufopfernd um den dahin siechenden Hund kümmern und die nächtliche Geburt der drei Kätzchen ist eine richtig spannende Angelegenheit.
Diese zusammenhängenden Geschehnisse bilden die ersten vier Kapitel von „Träume von Glück“ und zum Abschluss gibt es dann plötzlich – quasi als Zugabe – noch eine völlig andere Geschichte mit dem dramatischen Titel „Ort des Schicksal“. Hier schildert Taniguchi eine Himalaya-Expedition und spart nicht mit Abenteuerversatzstücken wie einem abstürzenden Bergsteiger, einem geheimnisvollen Schneeleoparden und einer Rettung in allerletzter Minute. Zwar wird nebenbei – durchaus sensibel – erzählt, wie stark der Berg auch im Alltag ruft. Doch diese eher konventionell auf Spannung getrimmte und geriet sehr viel langweiliger als die zuvor geschilderten Erlebnisse mit Hunden, Katzen und Kindern, was zeigt, dass die Stärken von Taniguchi ganz eindeutig darin liegen scheinbar alltägliche Begebenheiten in spannende Geschichten zu verwandeln.
Aus der alljährlichen Zusammenarbeit zwischen dem Pariser Verlag Futuropolis und dem Museum Louvre sind schon etliche Comic-Perlen hervorgegangen. Einige davon, wie David Prudhommes Einmal durch den Louvre, Marc-Antoine Mathieus Die Zeichnung oder Der schielende Hund von Étienne Davodeau (Die Ignoranten), wurden auch bei uns veröffentlicht.
2014 fand der Japaner Jiro Taniguchi (Vertraute Fremde, Die Sicht der Dinge) Aufnahme in die Collection Le Louvre et la bande dessinée. Hierfür sprengte er ein wenig sein ansonsten übliches Veröffentlichungs-Schema. Die Wächter des Louvre erscheint zwar in japanischer Leserichtung, ist jedoch ein großformatiges gebundenes und farbiges Album. Dass Taniguchi nicht nur ein Meister der schwarzweißen Comic-Erzählung sondern auch ein begnadeter Maler ist, hat er immer wieder durch seine stimmungsvollen Titelbilder oder den viel zu wenigen farbigen Eröffnungsseiten von einigen seiner Mangas bewiesen.
Der Protagonist von Die Wächter des Louvre ist, wie bereits häufiger bei Taniguchi, eine eher passive Figur. Die namenlose Hauptfigur bekommt erst am Ende des Comics durch ein persönliches Erlebnis etwas Kontur. Ansonsten lässt sich der vom Comicfestival in Barcelona kommende Manga-Zeichner einfach einige Tage in Paris treiben. Er wird von Fiber und Grippe geplagt und hat einige seltsame Begegnungen, als er durch den Louvre flaniert.
Als erstes trifft er auf eine Dame in historischen Gewändern, die sich als Nike von Samothrake entpuppt, also als jene griechische Siegesgöttin, deren kopf- und armlose Statue eins der bemerkenswertesten Ausstellungsstücke des Louvres ist. Bei einem Ausflug in das kleine Örtchen Auvers-sur-Oise erscheint dem Zeichner Vincent Van Gogh und natürlich spielt auch die Mona Lisa eine gewisse Rolle innerhalb des Comics.
Doch die Episoden handeln auch von der Wechselwirkung zwischen japanischer und europäischer Malerei. Ein längeres Kapitel des Comics widmet sich der Evakuierung der Kunstwerke des Louvres im Jahre 1939. Anscheinend war damals die französische Kunstwelt hellsichtiger als Politik und Militär. Angesichts einer deutschen Besetzung von Paris, wurde ein Großteil der Bilder, aber auch die Nike von Samothrake, unter großem Aufwand außerhalb der Stadt in Sicherheit gebracht.
Jiro Taniguchi gelang mit Die Wächter des Louvre ein Werk, das in der Tradition seiner sensiblen Comic-Reportagen wie Der spazierende Mann oder Der Gourmetsteht, doch durch die französischen Schauplätze und das zentrale Thema „Kunst im Wandel der Zeit“ auch neue Akzente setzt.