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Bill Griffith: Nobody’s Fool – The Life and Times of Schlitzie the Pinhead

In seiner Comic-Biographie über den wohl berühmtesten „Pinhead“ aller Zeiten zeichnet Underground-Ikone Bill Griffith das Leben der Freakshow-Ikone „Schlitzie Surtees“ eindrucksvoll auf 243 Seiten nach. Detailreich in einen an Robert Crumb (Fritz the Cat) erinnernden Zeichenstil lässt er eine Welt auferstehen, in der Kuriositäten-Shows ein profitabler Teil des Showbusiness waren.

Bill Griffith: Nobody's Fool - The Life and Times of Schlitzie the Pinhead
Copyright © 2019 Bill Griffith

Bill Griffith outet sich darin als großer Schlitzie- Fan, den das Thema “Side Shows“ (amerik. für Kuriositätenkabinette) nicht mehr losgelassen hat. Anfang der 60er Jahre beeindruckte ihn in einer Wiederaufführung Tod Brownings Film Freaks von 1932, in dem Schlitzie eine wichtige Rolle spielte.

Bill Griffith: Nobody's Fool - The Life and Times of Schlitzie the Pinhead
Courtesy of Photofest

In Nobody’s Fool verarbeitet Griffith auch seine eigene Geschichte und zeigt sich als jungen Künstler, der versucht, mit dem Eindruck des im Kino Gesehenen künstlerisch umzugehen, anfänglich als Maler, später dann als Underground-Zeichner mit der an Schlitzie angelehnten Figur Zippy The Pinhead und schließlich durch sein Alters- (man ist hier versucht zu sagen: Lebens-) Werk Nobody´s Fool, das im März 2019 in den USA erhältlich sein wird.

Bill Griffith: ZIPPY
ZIPPY © Bill Griffith

Schlitzie wurde Anfang des letzten Jahrhunderts in der Bronx unter dem Namen Simon Metz mit der sogenannten „Mikrozephalie“ geboren. Bei dieser Behinderung, weist der der Kopf – und somit auch das Gehirn – ein erheblich geringes Volumen als allgemein üblich auf, was geistige Behinderung zur Folge hat und lebenslange Betreuung erforderlich macht. In jungen Jahren wurde Schlitzie von seinen überforderten Eltern an einen Zirkus verkauft. Es folgen Jahre auf der Bühne, in denen Schlitzie mal als Frau (Monkey Girl), Missing Link (Half Monkey, Half Human), Last Of The Aztecs oder schlichtweg als „Schlitzie The Pinhead“ angepriesen wurde.

Mit Freaks erlangte Schlitzie landesweite Berühmtheit. Im Film geht es um das Leben von Missgebildeten innerhalb eines Wanderzirkus. Regisseur Tod Browning drehte zuvor Dracula mit Bela Lugosi und sammelte in seiner Jugend Zirkuserfahrung. Bei Freaks verzichtete er fast völlig auf Masken- oder ähnliche Tricks und engagierte stattdessen echte „Freaks“ aus verschiedenen Shows. Das Ergebnis ist ein authentischer Horrorfilm, der die Zuschauer so sehr (über)forderte und schockierte, dass er kurz nach der Uraufführung von der Leinwand verschwand. In den 60er Jahren wurde er wieder ausgegraben und als Kultfilm gefeiert, obwohl der Freaks nur stark verstümmelt gezeigt werden konnte, da ein Drittel der ursprünglichen Fassung verschollen ist.

Das Herzstück von Bill Griffiths Comic ist die Darstellung der Arbeit am Film Freaks. Doch Griffith hat auch alles zusammengetragen, was von Schlitzies Leben vor und nach Freaks bekannt ist. Liebevoll zeichnet Griffith in zarten Schraffuren das Bild eines Mannes mit dem Intellekt eines Kleinkinds, aber eben auch einem solchen Herzen, dass dieser sich zeitlebens bewahrte.

Wie erfahren einiges über Schlitzies Lieblingsbeschäftigung (Geschirrspülen), seine Leibspeise (Frittiertes Hühnchen mit Kartoffelbrei und dazu ein Lager-Bier), seine Verehrung für den Trickfilm-Star Felix und sein ausgeprägtes Rhythmus- Bewusstsein. Schlitzies größte Leidenschaft waren die ausgiebigen Umarmungen, die er spontan jedem aufdrängten bei denen er die ein oder andere Träne verdrückte.

Schlitzies Leben war die Bühne. Ob als Zauberkünstler mit unausgereiften Kartentricks, clownesker Stichwortgeber oder schlichtweg als Kuriosität zum Angaffen, die Bühne war Schlitzies Leidenschaft. Dank seiner steigenden Bühnenpopularität konnte er auch in weiteren Filmen wie Island Of Lost Souls, Tomorrow´s Children oder Meet Boston Blackie als kuriose Nebenerscheinung punkten. Durch seine Filmtätigkeit kam Schlitzie auch mit Prominenten wie dem Autor F. Scott Fitzgerald in Kontakt.

Wirklich traurig wird es gegen Ende des Comics, wenn Schlitzie von Staatsvertretern aus seinem gewohnten, vertrautem Umfeld der Side Shows herausgerissen und in die psychiatrische Anstalt von Los Angeles eingewiesen wird. Hier ist er auf einmal nichts Besonderes mehr, sondern nur eine Aneinanderreihung von Defiziten, die Maßnahmen erfordert. Doch glücklicherweise erkennt  einer der Putzkräfte des Hospitals, ein ehemaliger Schwertschlucker, den in Apathie versunkenen Pinhead. Er beantragt aus Mitleid dessen Vormundschaft und es gibt es doch noch ein Happy End für Schlitzie. Er kann noch einmal an seine Karriere als Sideshow-Bühnenstar anknüpfen und in einer sehr schönen letzten Sequenz sieht man ihn auf dem Hollywood-Boulevard zu Radiomusik tanzen.

Der Band schließt mit dem Bild seines Grabsteins ab, der vor ein paar Jahren durch eine Petition von Schlitzie-Verehrern zustande kam. Auf dem Grabstein steht ein Krug frisch gezapftes Bier. Schlitz-Bier möglicherweise mögen manche munkeln. Egal. Wichtig ist, dass hier jemand ruht, der, wie Jahrzehnte später Forrest Gump, Amerikas den Spiegel vorgehalten hat. Trotz seines Anderssein, seiner Naivität und absoluter Intellekt- Losigkeit vermittelte Schlitzie, worauf es wirklich ankommt im Leben: Nicht Bildung, nicht Klugheit, ja nicht einmal Reflexion, sondern pure Freude am Sein im Hier und Jetzt.

Das ist wohl der Schlussstrich, den diese außerordentlich stimmungsvolle, intime und großartig recherchierte Comic-Biographie zieht. Fazit: Großes Comickino und- um mit Schlitzies eigenen Worten zu schließen:„Boffo! You see? You See?“

Matthias Schäfer

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