Aktuell wurde der nach Jahrzehnten gegliederte Kino-Canon des Taschen Verlags gerade mit dem Band 100 Filme der 2010er fortgeführt. Dies ist sehr löblich, doch leider sind einige der sieben zuvor erschienenen Bände schon lange vergriffen und werden hoch gehandelt. Hier wäre eine Neuauflage mehr als wünschenswert.
Beim ersten Band Filme der 20er sprengten Jürgen Müller und sein 12-köpfiges Team etwas den Rahmen und sich widmeten auch der Frühzeit des Kinos. Unter den achtzig im Buch gewürdigten Filmen befindet sich daher auch Die Ankunft eines Zuges im Bahnhof von La Ciotat von den Gebrüder Lumière. Dieser nur eine Minute dauernde Film riss die Zuschauer 1895 wirklich von den Sitzen, da sie befürchteten die gefilmte Eisenbahn würde mitten ins Kino rasen.
Auf dem Cover des Buches befindet sich ein schon zur Ikone gewordenes Foto von Marlene Dietrich aus Der blaue Engel, während der einleitende Text mit Fotos aus Murnaus Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens bebildert wurde. Dies belegt die starke Position des deutschen Films in den Anfangsjahren des Kinos. So stammen über ein Drittel der besprochenen Filme aus Deutschland oder wurden von deutschen Regisseuren inszeniert. Erst in den folgenden Jahrzehnten – und den zugehörigen Büchern von Taschen – dominiert Hollywood.
Das Cover von Filme der 30er ziert (natürlich) ein Bild von Vivien Leigh als Scarlett O´Hara aus Vom Winde verweht. Jürgen Müller und Jörn Hetebrügge bebildern ihren einleitenden Text jedoch mit Standbildern aus Fritz Langs M – Eine Stadt sucht einen Mörder. Zwischen diesen beiden Extremen – also zwischen US-amerikanischen Studiofilm und individuellem europäischen Kino – können die meisten der über 100 besprochenen Filme eingeordnet werden. Reich bebildert liefern die vierzehn Co-Autoren interessante und treffende Analyse.
Erfreulich ist dabei die abwechslungsreiche Auswahl. Walt Disneys Schneewittchen und die sieben Zwerge steht gleichberechtigt neben Marcel Carnés Hafen im Nebel oder Chaplins Moderne Zeiten. Doch auch das Horrorkino findet reichlich Berücksichtigung. Die beiden ersten Frankenstein-Filme von James Whale sind ebenso enthalten wie Dracula mit Bela Lugosi oder der ebenfalls von Tod Browning stammende Freaks.
Die meisten Einträge verzeichnet natürlich das magische Kinojahr 1939. Hier entstanden neben Vom Winde verweht auch noch Die wilden Zwanziger, Sein Mädchen für besondere Fälle, Der Zauberer von Oz und Ringo – Höllenfahrt nach Santa Fe sowie die Lubitsch-Klassiker Ninotschka und Rendezvous nach Ladenschluss. Beim Blättern in diesem liebevoll zusammengestellten Buch erschließen sich Zusammenhänge und es werden angenehme Erinnerungen erweckt.
Das Cover von Filme der 40er zeigt (natürlich) eine Szene mit Humphrey Bogart und Ingrid aus Casablanca, dem wohl besten Produkt aus Hollywoods Studiosystem. Den einleitenden Exkurs zieren Abbildungen aus dem wohl beeindruckendsten Regie-Debüt aller Zeiten: Citizen Kane von Orson Welles, der im Buch auch mit Der Glanz des Hauses Amberson, Die Lady von Shanghai und als Darsteller in Der dritte Mann vertreten ist.
Auch das Horrorkino ist wieder gut dabei mit Klassikern wie Der Wolfsmensch, Katzenmenschen oder aber auch Abbott und Costello treffen Frankenstein. Ansonsten wird in der Auswahl der vorgestellten Filme versucht nicht nur Hollywood abzufeiern. Auch UFA-Werke wie Münchhausen, Große Freiheit Nr. 7, Unter den Brücken oder Die Feuerzangenbowle und Tatis Schützenfest finden Berücksichtigung in diesem ebenso sinnvollen wie sinnlichen Buch.
Das Cover von Filme der 50er ziert ein poppig angerichtetes Motiv aus dem heute kaum noch beeindruckenden Klassiker Verdammt in alle Ewigkeit, während sich der einleitende Exkurs sehr ausführlich (und sehr berechtigt) mit Alfred Hitchcocks wohl bestem Film Vertigo beschäftigt. Den Reigen der 89 aufgenommenen Filme eröffnen dann Das Ding aus einer anderen Welt und Der Untertan. Neben Prestige- oder Monumentalwerken aus Hollywood wie die Filme mit James Dean oder Die zehn Gebote findet sich auch Raum für “kleinere“ Filme aus aller Welt oder Trashperlen des phantastischen Films.
Bei der Bildauswahl überrascht, dass das (ansonsten hervorragend zusammengestellte) Bildmaterial zu so manchem in Farbe gedrehten Film wie etwas bei Hitchcocks Fenster zum Hof oder Billy Wilders Das verflixte 7. Jahr nur in Schwarzweiß abgedruckt wurde, während die Fotos aus Ishiro Hondas erstem Godzilla-Film farbig (bzw. handkoloriert) sind obwohl das Werk nur in Schwarzweiß in die Kinos kam. Insgesamt macht auch dieser Bildband Appetit darauf, sich so manchen Klassiker noch mal (oder endlich einmal!) anzusehen.
Auf dem Titelbild von Filme der 60er ist Audrey Hepburm im Charade zu sehen und ein , reich bebilderter Eintrag zu ihrem wohl bekanntesten Werk Frühstück bei Tiffany eröffnet das Buch. Das Jahrzehnt mit dem der Band sich beschäftigt, brachte uns die Spaghetti-Western, sowie die immer noch in voller Blüte stehende James-Bond-Reihe und natürlich mit Easy Rider den Start in ein neues Hollywood.
Enthalten ist auch Das Dschungelbuch, dessen Premiere der kurz zuvor verstorbenen Walt Disney leider nicht mehr erleben konnte. Doch viele Siebenjährige, die den Zeichentrickfilm 1967 im Kino sahen, fanden mit Balu. Mogli, Baghira und Shanti Freunde fürs Leben.
Bei Filme der 70er besteht trotz Star Wars, Einer flog über das Kuckucksnest, Eraserhead, Der Pate, Der weiße Hai, Chinatown, Taxi Driver, The Rocky Horror Picture Show und zahllosen weiteren Filmen kein Zweifel daran, welcher Film das Jahrzehnts überstrahlt.
Sowohl das Cover als auch die einleitende Textstrecke zieren Bilder aus Stanley Kubricks unbequemen Kultfilm Uhrwerk Orange. Doch ansonsten ist auch diesmal wieder Vielfalt angesagt. In der Auswahl befinden sich neben den zuvor genannten üblichen Verdächtigen auch Mein Name ist Nobody, Supervixens Eruption von Russ Meyer, Brust oder Keule mit Louis de Funés oder Bruce Lee – Der Mann mit der Todeskralle.
Von diesem Buch gibt es unter dem Titel Die besten Filme der 70er auch eine abgespeckte kleinformatigere Hardcover-Edition, deren das Cover Liza Minnelli in Cabaret ziert. Dieses Buch ist mit 350 Seiten nur halb so umfangreich, ist mit 9,95 Euro aber auch deutlich preiswerter als die großformatige Ausgabe ist.
Auf dem Cover von Filme der 80er ist ein durch den Pop-Art-Raster gejagtes Fotos aus John Hustons Die Ehre der Prizzis mit Jack Nicholson und Kathleen Turner, an den sich heute wohl kaum noch jemand erinnern wird. Das Buch wird mit einem reich bebilderten Essay zu Blade Runner eröffnet und geht anschließend auf immer wieder gerne gesehene Klassiker wie Jäger des verlorenen Schatzes oder Harry und Sally ein.
Auch zu dieser Edition existiert mit Die besten Filme der 80er eine abgespeckte kleinformatigere Hardcover-Edition mit einem Umfang von 350 statt 800 Seiten. Auf dem Cover ist Al Pacino als Scarface zu sehen.
Bei den in Filme der 90er aufgenommenen Werken fällt es schwer von Klassikern zu sprechen. Zumindest bei mir sind die Erinnerungen an die Erstbegegnung im Kino mit Filmen wie Verrückt nach Mary, Face Off oder Basic Instinct noch halbwegs frisch sind.
Bei manchen Filmen wie Pulp Fiction oder From Dusk Till Dawn trifft die arg strapazierte Etikette Kultfilm zu. Schon beim ersten Sichten antiquiert bis überflüssig wirkten hingegen Tom-Hanks-Vehikel wie Apollo 13, Forrest Gump oder Philadelphia (warum wird eigentlich ein Film aufgenommen, vom dem zu lesen ist: “Als Film über Schwule und Aids versagt er völlig“?). Überraschend ist die (auf dem zweiten Blick durchaus nachvollziehbare) Berücksichtigung von Davis Lynchs Twin Peaks – Fire walk with me.
Auch von dieser Ausgabe gibt es eine deutlich abgespeckte kleinformatige Hardcover-Edition mit 350 anstatt 800 Seiten. Das Cover von Die besten Filme der 90er zeigt eine Szene mit Jodie Foster aus Das Schweigen der Lämmer. Die Aufteilung berücksichtigt diesmal Filme von 1990 – 1999 und nicht von 1991 bis 1999. Scheinbar wahllos wurden durchaus bedeutende Filme wie Sieben, Terminator 2, Fight Club oder Die Commitments weggelassen.
Filme der 2000er beschäftigt sich mit 120 ausgewählten Filmen. In der Einleitung verknüpft Jürgen Müller die Besonderheiten des Kino-Jahrzehnt mit einem als besonders “typisch“ empfundenen Film verknüpft. Dass es sich hierbei mit No Country for Old Men von den Coen Brothers um einen nicht von jedermann geliebten Film handelt, belegt nicht nur die Fixierung der Buchreihe auf das Hollywood-Kino sondern auch die erfrischende Subjektivität bei der Zusammenstellung des Kanons.
Fünf Jahre nach der Erstveröffentlichung erfolgt innerhalb von Taschens Bibliotheca Universalis eine kompakte, nicht einmal halb so große, aber ungekürzte Neuausgabe in deutscher Sprache.
Jürgen Müller hat auf diese Art mittlerweile mehr als ein Jahrhundert Filmgeschichte abgehandelt und Anfang 2021 erschien 100 Filme der 2010er.
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