Zunächst hielt ich dieses wunderbare Taschenbuch für eine Ansammlung von launigen Texten zu 99 entweder besonders bedeutenden oder besonders peinlichen deutschsprachigen Popsongs, die – von Freddys Heimweh bis hin zu Du trägst keine Liebe in Dir von Echt – in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts entstanden sind.
Bedenken darüber, dass Cheri, Ceri Lady von Modern Talking Aufnahme in diesen Kanon aufgenommen wurde, zerstreut der wortgewaltige österreichische Musikjournalist Wolfgang Zechner mit: “Wer glaubt, dass das (was da gesungen wird) Englisch ist, glaubt auch, dass Dieter Bohlen über das kompositorische Können von Brian Wilson verfügt.“
Zechner verfügt über die Fähigkeit im Schrecklichen auch das Schöne zu sehen und lobt Modern Talking dafür, dass das Duo “das Formelhafte des deutschen Schlagers notdürftig ins Englische übersetzt haben und die so entstandene Notdurft zu Gold verwandelt“ hat.
Sehr gut gefiel mir auch die Passage, in der Zechner beschreibt, wie Peter Alexander 1979 in der ZDF-Hitparade seinen Grubenunglücks-Song Schwarzes Gold mit der “schmierigen Perfektion des Ausnahmekünstlers“ ebenso “abstoßend wie bewundernswert“ performte.
Doch das Buch präsentiert nicht nur abschreckende Beispiele, wie das 1996 entstandene kitschige Lied An einem Morgen im April der Kastelruther Spatzen über den Reaktorunfall in Tschernobyl.
Kastel verleiht auch seiner Begeisterung über den erst fünfzehnjährige Ozan Ata Canani Ausdruck, der 1978 aus den “widersprüchlichen Gefühlen von Fremdheit, Ausgrenzung, Enttäuschung und Hoffnung“ der sogenannten “Gastarbeiter“ den “funktionierenden Popsong“ Deutsche Freunde machte.
Doch Völlig schwerelos ist sehr viel mehr als pointiert zu Papier gebrachtes Nerdwissen. Mit spürbarerer Begeisterung erzählt Zechner davon, wie deutschsprachige Songs nach “müden Schlager-Missverständnissen, experimentellem Krautrockwahnsinn, fremdartiger Punk-Eigenständigkeit, hochnotpeinlichem Blödel-Bardentum oder knödelnder Deutschrockverkrampfung“ zum integralen Bestandteil der internationalen Popmusik wurden. Nicht ohne Wehmut stellt Zechner fest, dass er ein wenig der “wunderlichen deutschen Vergangenheit“ nachtrauert und für mehrheitsfähige deutsche Popmusik “keine Liebe in sich trägt.“
PS: Ein persönliches Highlight ist für mich der Text zu Der Biker, einem Song, den Reinhard Mey 1998 veröffentlichte. Wolfgang Zechner erzählt davon, wie sich der eher unpolitische Liedermacher Mey in den Sechzigern auf den Burg-Waldeck-Festivals immer stärker von seinen linksradikalen Kollegen ausgegrenzt fühlte und sich aus Rache 1973 in einem Spottlied über die emanzipierte Lebensführung der “ungeheuer progressiven“ Annabelle, ach Annabelle lustig machte. Doch im Countrysong Der Biker singt Mey über eine Wiederbegegnung im Rahmen einer Nahtoterfahrung mit der “herrlich unkonventionellen“ Annabelle und wie er sich bei ihr entschuldigt:
Annabelle, diesmal machen wir zwei es richtig,
Witzigkeit ist diesmal nicht so furchtbar wichtig
Kleinliche Polemik, sinnloses Gestreite
Eigentlich standen wir beide auf derselben Seite
Zechner schreibt dazu: „Man hört, staunt und traut seinen Ohren nicht. Ein 56 Jahre alter Mann bekennt, dass er einst auf der falschen Seite der Geschichte stand.“ Sehr viele ähnlich interessante Musikperlen sind in Völlig Schwerelos zu finden.






