Nachdem sein Segelboot in einen Sturm geraten ist, entdeckt Raúl eine kleine Insel, die auf keiner Seekarte eingezeichnet ist. Aus der Ferne sieht diese wie ein Kreidestrich aus, denn der kleine kalkige Felsenhaufen verfügt über einen überdimensional langen, ebenfalls weißen Pier. Neben einem erloschenen Leuchtturm, befindet sich nur ein Gebäude auf der Insel.
Dabei handelt es sich laut der Besitzerin Sara um “eine Gaststätte, Taverne, Herberge und Laden in einem, was gerade nötig ist.“ Neben Saras seltsamen Sohn Dimas ist nur noch die angehende Schriftstellerin Ana auf der Insel, die ebenfalls per Segelboot angereist ist. Da Raúl von der jungen Frau fasziniert ist, beschließt er noch eine Weile an dem seltsamen Ort zu bleiben.
Raúl blamiert sich bei seinen Annäherungsversuchen und wird nicht so richtig schlau aus Ana, die auf jemanden zu warten scheint. Sara wiederum befürchtet, dass bald ein drittes Boot anlegen wird, was bisher immer zu Ärger geführt hat. Tatsächlich eskaliert die Situation als zwei Männer auftauchen, die sich sehr rüpelhaft aufführen…
Der Galicier Miguelanxo Prado (Der tägliche Wahn, Ardalèn) ist als Zeichner ebenso genial wie als Maler. Wer seinen 1993 veröffentlichten Comic Kreidestriche einmal gelesen hat, vergisst weder die seltsame Atmosphäre auf der Insel, noch die knisternde erotische Spannung zwischen Raúl, Ana und Sara, die Prados Bilder so eindringlich eingefangen haben. Daher ist es sehr erfreulich, dass Cross Cult sich des mehrfach preisgekrönten Werkes angenommen und es nach 30 Jahren neu veröffentlicht hat.
Für diese schöne Ausgabe spricht auch der umfangreiche Anhang. Da das Ende des Comics offen blieb, hat sich Prado immer wieder mit seinen Geschichte und den Charakteren beschäftigt. So veröffentlichte er 1997 im Magazin À Suivre… einen zweiseitigen Epilog. Für dieselbe Publikation zeichnete Prado zwei Jahre zuvor eine Seite in der Corto Maltese auf Ana trifft.
Doch der Band enthält nicht nur diese Kurzcomics und zusätzlich noch eine im Magazin Spirou erschienene Hommage an André Franquin. Neben zahlreichen Skizzen und alternativen Titelbildern kommen auch noch einige großformatige Illustrationen zum Abdruck. Interessant sind auch Prados Kommentare zu diesen Bildern.
Eine Doppelseite zeigt Raúl und Sara, die beisammen in der Taverne sitzen. Prado meint dazu: “Die Beziehung zwischen den beiden Charakteren war stets angespannt, aber ich hatte das Gefühl ich schulde ihnen zumindest ein gemeinsames halbwegs versöhnliches Glas.“ Auch mit Ana trank Raúl auf einem Plakat für ein Comicfestival in der Champagne ein gemeinsames Glas, doch hier ist Prado realistisch: “Dieses Motiv schien mir eine gute Gelegenheit zu sein, um beiden einen Moment zu schenken, den sie nie hatten.“
Nachdem die Comic-Ikone Corto Maltese bereits von den beiden Spaniern Juan Díaz Canales und Rubén Pellejero recht respektvoll im Stile seines Schöpfers Hugo Pratt fortgeführt wurde, startet ein weiterer Revitalisierungs-Versuch, der sich sehr viel mehr Freiheiten nimmt. Der Autor und Historiker Martin Quenehen schickt Corto Maltese auf eine Schatzsuche, die im Jahre 2001 stattfindet.
Doch trotz des Zeitsprungs wirkt der ansonsten eher Anfang des letzten Jahrhunderts tätige Abenteurer jünger denn je. Für den neuen Look zeichnet sich Bastien Vivès (Der Geschmack von Chlor, Polina, Für das Imperium) verantwortlich, der mit Quenehen bereits beim Comic-Thriller Quatorze Juillet zusammenarbeitete. Die Bilder von Vivès lassen durch ihre Lässigkeit zwar an Pratt denken, haben aber einen ganz eigenen Charme.
Der Prolog erinnert an die pre–title sequence eines James-Bond-Films und erzählt ein Abenteuer auf hoher See. Corto Maltese tritt hier kurz als Pirat auf, wechselt jedoch die Fronten, da er von den Brutalitäten seines Kompagnons angewidert ist. Diese ersten 14 Seiten wurden von Patrizia Zanotti koloriert, die auch für die Farbgebung von Pratt-Klassikern wie Die Südseeballade verantwortlich war und die Corto-Maltese-Rechte verwaltet.
Den Rest des Abenteuers gestaltete Bastien Vivès in Schwarzweiß mit eindrucksvoller grauer Kolorierung. Besonders beeindruckend sind Sequenzen, die ganz ohne Text auskommen und nur so strotzen vor Atmosphäre. Genau wie beim klassisches Corto sind es auch hier eher die Bilder als die etwas wirre Geschichte, die für den Comic einnehmen.
Martin Quenehen lässt am Rande der Geschichte den Anschlag auf das World Trade Center stattfinden und Corto Maltese kurz auf den damaligen US-Außenminister Colin Powell treffen. Wichtiger jedoch ist, dass der Autor interessante Schauplätze wie Japan und Peru auswählte, die eine Steilvorlage für den Zeichenstift von Bastien Vivès sind.
Abgerundet wird der Band durch zwölf Seiten mit sehr schönen Skizzen und Entwurfszeichnungen, sowie ein interessantes Nachwort vom Casterman-Verlagsleiter Benoît Mouchart. Dieser liefert einen interessanten Einblick in die Historie von Corto Maltese und die Entstehung dieses Bandes. Es ist auch zu erfahren, dass Corto im nächsten Comic von Canales und Pellejero im Berlin der Weimarer Republik agieren wird. Auch ein weiteres von Quenehen und Vivès in Szene gesetztes Abenteuer wäre sehr zu begrüßen.
Der Belgier Jean Dufaux schrieb bereits die Szenarios zu 50 Comic-Serien, darunter Raubtiere – Jäger der Nacht, Giacomo C. und Djinn. Routine sieht jedoch anders aus, als Dufaux´ 2012 gestarteter Zweiteiler Loup de pluie, den Schreiber & Leser in einer optimal aufgemachten Gesamtausgabe mit umfangreichen Bonusmaterial präsentiert.
Auf über 120 Seiten entfaltet sich ein mit großem Ensemble bevölkertes Western-Drama. Dabei geht es um Feindschaften zwischen Familien und mit Indianern. Zuerst kommen hauptsächlich Menschen zu Tode, die es nicht verdient haben. Im Finale treffen Kugeln oder Pfeile dann die richtigen Ziele, wobei natürlich Ausnahmen die Regel bestätigen (und für zusätzliche Dramatik sorgen).
Soweit, so klassisch, doch trotzdem gilt nicht: Im Western nichts Neues. So wird diese Geschichte von einer Frau erzählt, die Hauptfigur ist ein Indianer und der Eisenbahnmagnat Vincent McDell eine durchgehend positive Figur. Die drei Kinder von McDell geraten zwischen die Fronten eines immer stärker anschwellenden Konflikts, wobei Jean Dufaux dafür sorgt, dass es dem Leser keineswegs gleichgültig ist, wie die Geschichte ausgeht.
Die zugehörigen Bilder stammen vom Spanier Rubén Pellejero (Dieter Lumpen, The Long and Winding Road), der aktuell den Klassiker Corto Maltese im Stil von dessen Schöpfer Hugo Pratt fortführt. Für Regenwolf wählte Pellejero einen komplett anderen Look. Durch dicke Umrisslinien und knallige Farben wirkt seine Optik auf den ersten Blick klobig.
Doch bei der Lektüre entsteht eine ganz eigene Atmosphäre, die schlüssig belegt, dass europäische Western-Comics auch funktionieren, wenn nicht versucht wird, Jean Girauds (zweifelsohne faszinierende) Blueberry-Grafik zu imitieren. Gerade durch Rubén Pellejeros ungewöhnliches Artwork wirkt Dufaux´ Geschichte unkonventioneller als sie wirklich ist.
Das allererste Bild mit Corto Maltese, am Anfang von Die Südseeballade, präsentiert ihn als Gekreuzigten auf einige Baumstämme gefesselt, hilflos im Pazifik treibend. In keiner Geschichte von Hugo Pratt wird erzählt, wie es zu diesem ungewöhnlichen Heldenauftritt kam.
Spontan fällt mir als Vergleich nur der Erstauftritt von Jack Sparrow in Fluch der Karibikein – interessanterweise auch er ein Pirat. Der neue Band, Tarowean, geht genau dieser Frage nach, die seit über 50 Jahren die Fans beschäftigt. Er ist der 15. der Reihe und – nach Unter der Mitternachtssonne und Äquatoria der dritte des Duos Juan Diaz Canales & Rubén Pellejero. Konkret schließt die letzte Seite von Tarowean an die erste der Südseeballade an.
Die Handlung setzt 1912 ein, am 1. November, also ein Jahr vor Beginn des Erstlingswerks. Und was den Christen ihr Allerheiligen oder Halloween ist und den Kelten ihr Samhain war, entspricht in Malaysia dem Tarowean, den Tag der Überraschungen. Mit von der Partie ist der Widerling, Mörder und Freundfeind Cortos, der russische Seemann Rasputin.
Kurz vor dem Großen Krieg reichen die Machtbestrebungen der europäischen Kolonialmächte bis zur anderen Seite der Erdkugel. Die Staaten interessieren sich für Rohstoffe, Ausbeutung und Hegemonie, die Menschen für Stolz, Macht und Überheblichkeit. Wie so oft in den Erzählungen des maltesischen Freidenkers, sind Auftritte zeitgenössischer Personen in die Handlung eingebettet und mit einem kräftigen Schuss Ironie gewürzt. Abgerundet wird das Menü mit einer tragischen Liebesbeziehung und der blutgetränkten Vorgeschichte des Mönchs der Insel La Escondida.
Am Schluss wissen wir, warum der Kapitän ohne Schiff einsam im Pazifik treibend gefunden wurde. Aber Juan Díaz Canales verrät noch mehr, wir wissen jetzt ebenso, dass er seine Rettung vorausgesehen hat. Corto wusste, dass der 1. November auch der Tag des Heiligen Caesarius ist, der in Afrika als Retter der Ertrinkenden angerufen wird.
So kennen wir jetzt den Anfang und Ausgangspunkt – was uns leider gar nichts nützt, denn weiterhin sind wir gebannt vom Leben dieses ungewöhnlichen Piraten, dessen Geschichten vor hundert Jahren spielen und uns so aktuell berühren. Corto Maltese vermittelt überaus glaubhaft, dass wir gar nichts wissen.
Zeitgleich mit dem sechsten Band der Bild-Comic-Bibliothek zu Detektiv Conanstartet am 5. September 2005 die Reihe Klassiker der Comic-Literaturder Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die einzelnen Bände waren für 4,90 Euro erhältlich, etwas kleinformatiger und nicht gebunden, enthielten dafür aber sehr ausführliche Vorworte. Das Lettering wurde dem kleinen Format von 14 x 21 cm angepasst. Die Serie bietet eine wirklich anregende Auseinandersetzung mit dem Medium Comic.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand eine ganz eigenständige italienische Comic-Kultur, die zunächst allerdings noch etwas auf den Spuren der US-Zeitungscomics wandelte. Im Magazin Asso di Picce schuf Hugo Pratt von 1945 bis 1948 die titelgebende Serie um einen maskierten Helden. Nach der Einstellung des Magazins ging Pratt nach Argentinien und arbeitete dort an weiteren Comicserien. Nachdem er in London noch einige Kriegscomics gezeichnet hatte, kehrte Pratt schließlich ins geliebte Venedig zurück. Dort setzte er zunächst bekannte Romane wie Die Schatzinsel in Comicform um, bevor er in dem Magazin Sgt. Kirk ein optimales Forum gefunden hatte.
Der Immobilienspekulant und Comicfan Florenzo Ivaldi finanzierte aus privaten Mitteln eine Publikation, die ausschließlich Arbeiten seines Lieblingszeichners Hugo Pratt enthalten sollte. Neben älterem Material präsentierte Pratt 1967 gleich in der ersten Ausgabe von Sgt. Kirk seine neue HauptfigurCorto Maltese. Die Südseeballade, das erste Abenteuer des Seemannes, sollte auch durch den Umfang von 165 Seiten Comicgeschichte schreiben.
Der 11. SZ-Band enthält die komplette Südseeballade neu koloriert und ummontiert in für die Größe des Buches sehr lesefreundliches Format. Ergänzt kommen noch ein höchst informatives Vorwort von Andreas Platthaus und einige Aquarelle von Hugo Pratt hinzu, die diesen Band zum Schmuckstück der Reihe machen.
In Das große Abenteuer stellte Milo Manara mit Giuseppe Bergman eine leicht autobiografisch angelegte Hauptfigur vor, die auch noch im Zentrum von fünf danach entstandenen Geschichten wie Ein Autor sucht sechs Personen oder Ein Traum…. vielleicht… (folgt als “Manara Werkausgabe # 8) stehen sollte.
Das große Abenteuer heißt im italienischen Original H. P. e Giuseppe Bergmann und mit H. P. ist die italienische Comiclegende Hugo Pratt (Corto Maltese) gemeint mit der Manara anschließend noch bei Ein indianischer Sommer und El Gaucho zusammenarbeiten sollte. Manara hatte es auch Pratt zu verdanken, dass er Ende der Siebziger Jahre im französischen Comicmagazin (À Suivre) eine selbstgeschriebene Abenteuergeschichte veröffentlichen konnte.
Im Gegensatz zu Hugo Pratt fühlte sich Milo Manara nicht wirklich wohl im Abenteuer-Genre und thematisiert dies auch in seiner Geschichte. Lange bevor es das Wort Reality Soap gab, wird Giuseppe Bergmann von einem mit unbegrenzten finanziellen Mitteln operierenden Medienkonzern auf eine abenteuerliche Odyssee geschickt. Um die “kommerzielle Ausbeutung und den Vertrieb des Abenteuers“ kümmert sich ein mysteriöser Produzent, Bergman soll nur dafür sorgen, dass es spannend zugeht.
Manaras Geschichte ist unzweifelhaft ein Produkt der politisch bewegten und vom Terroismus geprägten 70er-Jahre. Manche der damals provokant gemeinten Situationen (Soll unser Held den behelmten Polizisten oder den vermummten Demonstranten abknallen?) wirken heute etwas aufgesetzt. Naiven politischen Idealismus verkneift sich Manara jedoch zum Glück und setzt sich sehr vielfältig mit der Frage auseinander ob “Abenteuer“ überhaupt noch möglich oder wünschenswert sind.
Bei seinen Bildern orientiert sich Manara weniger am genialen Minimalisten Hugo Pratt, sondern sehr viel stärker am Frühwerk von Moebius. Zum Glück veröffentlicht Panini Das große Abenteuer in Schwarzweiß. Zeichnerisch war Milo Manara nie besser als hier. Während er sich heute fast nur noch für das Zeichnen von nackten Damen zu interessieren scheint, erzählt er hier in kleinteiligen detailfreudig ausgestalten Panels eine spannende Geschichte.
Das sicher aus kommerziellen Gründen ausgewählte Cover von PaninisManara Werkausgabe wirkt gegenüber dem ursprünglichen Titelbild etwas plump, doch dafür enthält der Band als Bonus noch eine wunderschöne Galerie mit Manaras Interpretationen von Federico Fellini und seinen Filmen.
Ticonderoga spielt nicht im Wilden Westen mit weiten Prärien, halbnackten Eingeborenen und Colts an den Hüften. Es ist mehr als hundert Jahre zuvor, als der alte Osten noch wild war und die Indianer in riesigen Wäldern lebten. Es ist die Zeit, die J. F. Cooper in seinen Romanen aufleben ließ, mit Waldläufern, Mohikanern, Huronen und Irokesen, die entweder mit Franzosen oder Engländern verbündet sind und auf amerikanischem Boden helfen, die Kämpfe der europäischen Mächte auszutragen.
Im Argentinien der 1950er und 1960er Jahre war Héctor Germán Oesterheld (Mort Cinder) die wohl prägendste Figur der damaligen Comic-Szene. Zusammen mit seinem Bruder war er Herausgeber zweier wichtiger Comic-Magazine mit so bedeutenden Zeichnern wie Alberto Breccia, Francisco Solano López und Hugo Pratt (Corto Maltese).
Vor allem schrieb Oesterheld einen Großteil der Geschichten selbst. Ticonderoga wurde von 1957 bis 1959 im Magazin Frontera publiziert, überschneidend zu Eternauta, dem berühmtesten Werk Oesterhelds, das im Schwestermagazin Hora Cero erschien.
Die Wiedergabe des Artworks von Ticonderoga basiert auf Scans der argentinischen Originalausgaben, die auf minderwertigem Papier z.T. grottenschlecht gedruckt wurden. Entsprechend sind manche Seiten unscharf, trotzdem ahnt man gelegentlich, was das für schöne Grautöne in den verschollenen Originalzeichnungen von Hugo Pratt gewesen sein müssen. Unterstützt wurde der Meister von seiner damaligen Assistentin und Partnerin Gisela Dester.
Empfehlen kann ich den Band allgemein für historisch Interessierte und speziell für Liebhaber des Ausnahmekünstlers Pratt. Euch erwartet ein im deutschsprachigen Raum bisher unbekanntes wichtiges Werk im prächtigen Gewand. Zwei Bände im Hardcover, einer im Quer-, der andere im Hochformat, sind vereint in einem schönen Schuber.
Wärmstens zu empfehlen ist der aktuelle Band Warten auf Corto, der – nach Das Logbuch des Robinson Crusoe und Das war Schwermetall – als dritter Band der Reihe Texte zur graphischen Literatur der Edition Alfons erschienen ist.
Es ist die erstmals auf Deutsch übertragene Niederschrift von Tonbändern, die 1970 während einer Autofahrt nach Marokko von Hugo Pratt besprochen wurden. Ohne große Erzählstruktur berichtet er auf 160 Seiten aus seinem prall gefüllten Leben und lässt neben erworbenen Meriten auch eigene Schandtaten nicht aus. So stellt er sich in einigen derben Anekdoten keineswegs als großer Verführer hin – er schildert sogar eindeutige Vergewaltigungen.
Aus einer faschistischen Familie stammend, aber mit multikulturellem Background englisch-französisch-italienischer Vorfahren gesegnet, begleitet der zehnjährige Venezianer Hugo seine Eltern nach Äthiopien. Hier erlebt er die letzten Jahre des europäischen Kolonialismus hautnah mit und trägt mit 14 Jahren bereits die Uniform der Kolonialpolizei.
Einige Jahre später, am Ende des 2. Weltkriegs, hat er die Seiten gewechselt und zieht, nach Verwechslungsspielen auch unter deutschem Kommando, als kanadischer Soldat in Venedig ein. Ende der Vierzigerjahre übersiedelt Pratt aufgrund eines Arbeitsangebots nach Argentinien, das zu der Zeit ein Schmelztiegel vorwiegend europäischer Einwanderer war.
Inwieweit das Leben des Corto-Maltese-Autors von seiner kenntnisreichen Fabulierkunst zu trennen ist, mag dahingestellt sein, spannend zu lesen ist der Band ganz sicher.Unterbrochen ist der Text von Skizzen des Künstlers und einige private Fotos ergänzen und dokumentieren die ausschweifenden Schilderungen.
Eine anhängende penible Bibliografie, reichhaltig bebildert, listet alle Comic-Werke des außergewöhnlichen Zeichners auf. Der Band ist kein literarisches, aber ein seltenes Juwel, das vorwiegend Comic-Liebhaber ansprechen wird. Dabei vermittelt er ebenso an der Zeitgeschichte Interessierten einen individuellen und fast schon zeitlosen Blick.
Der 1947 in Venedig geborene Italiener Giorgio Cavazzano war bereits als 12-Jähriger professionell in der Comic-Branche tätig! Er tusche zunächst die Zeichnungen seines auch für Disney tätigen Cousins Luciano Capitanio und wurde dann Mitarbeiter von Romano Scarpa (Der fliegende Schotte), dem wohl einflussreichsten italienischen Disney-Zeichner.
Bereits mit 19 Jahren realisierte Cavazzano eigene Comic-Geschichten für Disney Italien. Er arbeitet meistens mit Textern zusammen, wie etwa bei der viel beachteten Fantasy-Serie Drachenritter mit Egmonts Disney-Chefredakteur Byron Erickson. Doch Cavazzano kann nicht nur Disney, wie seine Geschichte Spider-Man in Venedig belegt, und ist auch ein talentierter Autor, wie seine bei uns in der Lustiges Taschenbuch Jubiläumsedition Nr. 3 und im Band Entenhausener Filmklassikerveröffentlichte Parodie des Kultfilms Casablanca beweist.
Ein weiterer Höhepunkt im Werk von Cavazzano ist eine von Bruno Enna geschriebene Geschichte. Der Titel Micky Maltese: Eine Mäuseballade lässt zwar vermuten, dass es sich hierbei um eine Parodie von Hugo Pratts ersten Comic-Abenteuer mit Corto Maltese handelt. Doch für Autor und Zeichner ist der 1967 erschienene Comic Die Südseeballadeein alles überragender Meilenstein.
Daher ist Eine Mäuseballade weniger eine Parodie, sondern – genau wie viele der italienischen Disney-Comics – eine liebevolle Hommage. Es wird sich nicht über die Vorlage lustig gemacht, sondern – ähnlich wie in frühen Disney-Kurzfilmen – ist die Freude daran zu spüren, Micky und seine Freunde in die Helden- oder Schurken-Rollen von Klassikern aus Literatur oder Kino schlüpfen zu lassen.
So ist es bei Cavazzano und Enna nicht der aufbrausende Donald, der für die Corto-Maltese-Rolle gecastet wurde, sondern der gelegentlich auch melancholische Micky. Diesem wird fast die Show gestohlen, durch einem sehr charismatisch die Schurkenrolle des Katputin (Rasputin bei Pratt) spielenden Kater Karlo. Natürlich gibt es im Comic auch dankbare Rollen für Minnie (“Minniedora Gruyère-Moore, Tochter eines bekannten Reeders aus Cape Maus“) und Goofy als Südsee-Insulaner.
Obwohl die Geschichte ganz offensichtlich für die Veröffentlichung im (Lustigen) Taschenbuch-Format vorgesehen ist, hat die Egmont Comic Collection eine luxuriöse Edition spendiert (mittlerweile gibt es auch eine abgespeckte Neuauflage). Das hat mit 50 Euro seinen Preis, ist aber durchaus angemessen. Die klaren Bilder von Cavazzano und das kongeniale Inking von Alessandro Zemolin kommen im Großformat besser zu Wirkung. Als Ergänzung gibt es noch aussagekräftige Texte von Enna, Cavazzano. Zemolin und dem Journalisten Vicenzo Mollica. Als krönenden Abschluss enthält das Buch noch den Abdruck sämtlicher Bleistiftzeichnungen von Cavazzano, die dieser ganz lässig – und ohne jemals ein Radiergummi zu benutzen! – zu Papier gebracht hat.
Bereits vor 25 Jahren brachte Reddition, die “Fachzeitschrift für Graphische Literatur“, zwei Ausgaben heraus, die sich intensiv mit der vielfältigen argentinischen Comic-Szene beschäftigten. Seinerzeit wurden ausführliche Interviews mit den Zeichnern Alberto Breccia (Eternauta 1969, Mort Cinder) und José Antonio Muñoz (Joe’s Bar) geführt, die auch in dieser Ausgabe zu finden sind.
Spätestens nach der Veröffentlichung des argentinischen Comic-Klassikers Eternauta durch den avant-verlag, die von einer vielbeachteten Wanderausstellung begleitet wurde, ist der Name des Autoren Héctor Germán Oesterheld etwas bekannter geworden. Dessen tragisches Schicksal – er und drei seiner Töchter sind in den 70er-Jahren während der Militärjunta verschwundenen – erinnert an seine wohl bekannteste Comic-Figur.
Der Eternauta Salvo versucht am Ende der Science-Fiction-Geschichte seine Familie wiederzufinden. Oesterheld steht im Zentrum der 68. Ausgabe der Reddition. Dieser hat nicht nur durch Eternauta Comic-Geschichte geschrieben, sondern in Zusammenarbeit mit ihm, konnte auch ein weiterer Großmeister der anspruchsvollen Comic-Erzählung wichtige erste Erfahrungen sammeln. Der Italiener Hugo Pratt lebte ab 1949 für zehn Jahre in Argentinien und arbeitete dort an von Oesterheld geschriebenen Serien wie Sgt. Kirk, Ernie Pike oder Ticonderoga, bevor er ab 1967 den Abenteuer-Klassiker Corto Maltese zeichnete und schrieb.
Reddition # 68 widmet sich dem Werk Oesterhelds, aber auch seinem von Militärdiktatur und Unterdrückung bestimmten Leben. Seine wichtigsten Wegbegleiter Hugo Pratt, Alberto Breccia, Francisco Solano López, Arturo Del Castillo, José-Antonio Muñoz und Enrique Breccia werden porträtiert und interviewt. Einmal mehr gelang hier eine gut zusammengestellte Materialsammlung zu einem sehr interessanten Thema.